Der Stress des Selbstverständlichen
Im Trubel des Alltags wird der Partner oft aus den Augen verloren. Weil man sich um so vieles kümmern muss, hält man den anderen für selbstverständlich. Das aber kann zu einem weiteren, nicht ungefährlichen Stressfaktor werden. Manche Paare haben sich so sehr aneinander gewöhnt, dass sie gar nicht mehr über den anderen nachdenken. Er ist ja immer da. Zwar ist er mit der Zeit ein wenig in den Hintergrund gerückt, aber das ist nicht weiter tragisch. Er weiß doch, dass er geliebt wird. Und er ist sicher einverstanden mit dem, was man tut, plant oder entscheidet. Man versteht sich schließlich ohne Worte. Der Partner ist wie ein schönes Möbelstück, über das man eher unbewusst mit der Hand streicht, wenn man an ihm vorbeigeht.
Partner, die einander für selbstverständlich halten, erkennt man an folgenden Verhaltensweisen:
- Sie verbringen viel qualitätslose Zeit miteinander. Qualitätsvolle Zeit wird für andere Menschen reserviert. Das bedeutet: Mit dem Partner geht man einkaufen (weil es gemeinsam schneller geht), man bespricht mit ihm häusliche Angelegenheiten (der Wagen muss zur Inspektion, das Kind hat einen Zahnarzttermin, am Ort hat ein neuer Supermarkt aufgemacht, die Kleidung muss in die Reinigung, Oma hat schon wieder angerufen, und Opa wird immer schwerhöriger) oder sieht am Abend gemeinsam fern (jeder auf seiner Couch und stumm). Nicht, dass es solche Gespräche und Tätigkeiten zwischen Partnern nicht geben sollte. Sie gehören natürlich zum gemeinsamen Leben dazu. Doch Partner, die einander für selbstverständlich halten, haben oft gar nicht viel anderes mehr gemeinsam.
- Ein weiteres Merkmal selbstverständlich gewordener Beziehungen: Der Partner hat nicht mehr wie früher oberste Priorität. Der Beruf, die Kinder, die Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber zählen mehr. Man ist nur noch mit dem „Eigenen“ beschäftigt, mit der Karriere, dem Hobby, den sozialen Kontakten. Das führt dazu, dass man zwar gerne von sich selbst redet, aber nicht mehr darauf achtet, wie es dem anderen geht. Man erwartet vielmehr, dass er für einen da ist, zuhört, Beifall klatscht oder Mitgefühl zeigt. Wenn der andere dann immer weniger von sich selbst preisgibt und sich zurückzieht, glaubt man entweder, es sei alles in Ordnung, oder man wirft ihm Desinteresse vor und zieht sich seinerseits zurück. Wo aber nur zwei selbstsüchtige „Ichs“ miteinander leben, gibt es kein „Wir“ mehr – die Gemeinsamkeiten werden immer weniger, und damit verschwinden Vertrautheit und Vertrauen aus der Beziehung.
- Berührungen und Zärtlichkeiten geschehen nur noch nebenbei. Der „selbstverständliche“ Partner bekommt geistesabwesend zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange gehaucht, Kosenamen wie „Schatz“ oder „Liebling“ werden ganz gewohnheitsmäßig geäußert und haben keine wirkliche Bedeutung mehr.
- Respektlosigkeiten nehmen zu. Das wird vor allem in der Kommunikation zwischen den Partnern sichtbar. Sie äußern sich in einer Art und Weise, wie sie niemals mit einem anderen Menschen sprechen würden. Freunde, Bekannte, ja sogar Fremde hören niemals Äußerungen wie jene, die sie manchmal ihrem Partner zumuten. Sie kritisieren, schimpfen, nörgeln, belehren, bewerten munter drauflos oder machen sich lustig über den anderen.
Es gibt viele Gründe, warum man den Partner für selbstverständlich nimmt, aber es gibt keine wirkliche Entschuldigung. Noch so viel Stress in der Arbeit, noch so viele Verpflichtungen anderen gegenüber und noch so viele Sorgen können es nicht entschuldigen, wenn man den wichtigsten Menschen in seinem Leben gleichgültig und desinteressiert behandelt.
Was kann man tun? Wer den anderen nicht für selbstverständlich nehmen will, muss für Qualitätszeiten in der Partnerschaft sorgen. Das bedeutet, regelmäßige gemeinsame Zeit mit dem Partner einzuplanen, die nicht durch andere oder anderes gestört wird. Ein Abend pro Woche, ein ganzer Tag am Wochenende, die Zeit vor dem Schlafengehen – gleichgültig, welche Zeitspanne man wählt, wichtig ist, dass sie nur für das Paar reserviert ist und nicht missbraucht wird, um Probleme zu besprechen, Konflikte auszutragen oder Alltagspläne zu schmieden.
Qualitätszeit sollte für den gegenseitigen Austausch von Erlebnissen, Gedanken, Gefühlen reserviert oder einfach nur für Zärtlichkeit da sein. Qualitätszeit entsteht automatisch, wenn ein aar die im Folgenden aufgeführten Punkte berücksichtigt:
Gemeinsamkeiten schaffen. Jede Liebe braucht ein drittes Element. Das können für eine Zeit lang die Kinder sein, doch besser ist es, wenn zwei Liebende etwas anderes finden, das sie verbindet. Ob ein Paar leidenschaftlich Schneekugeln sammelt, regelmäßig Golf- oder Tennisspielen geht, mit Begeisterung das Schachbrett rausholt oder sich gemeinsam für ein soziales oder politisches Projekt engagiert – wichtig ist, dass es in seinem Leben etwas „Drittes“ gibt, das beide als gleichermaßen wichtig und befriedigend erleben.
Partnerschaften ohne ein drittes Element fehlt ein bedeutsames Bindungsglied. Gemeinsame Ziele und Projekte geben einer Beziehung einen Sinn – jenseits aller verbindenden Emotionen. Statt permanent nur aufeinander bezogen zu sein oder im schlimmsten Fall Rücken an Rücken zu leben, richten Paare, in deren Leben es etwas wichtiges Drittes gibt, ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf etwas außerhalb ihrer Beziehung. Die gemeinsame Arbeit für ein Ziel stärkt die gegenseitige Loyalität und schafft Bindung.
Rituale sind eine gute Möglichkeit, um mit dem anderen Qualitätszeit zu verbringen. Psychologische Studien belegen eindeutig: Ein Paar ist umso zufriedener, je mehr Rituale es in seinen Alltag einbaut. Rituale festigen die Bindung zwischen zwei Menschen, sie stärken das Wirgefühl und stabilisieren die Beziehung. Ein Ritual darf dabei nicht mit Routine verwechselt werden: Wenn sich die Familie jeden Morgen zum schnellen Frühstück trifft, ist das noch kein Ritual. Wird aber jeden Sonntag ganz bewusst ein ausgiebiger Brunch miteinander genossen, bei dem man sich Zeit füreinander nimmt, dann ist das ein wertvolles Ritual.
Je bewusster und gezielter ein Paar seinen Alltag mit regelmäßigen Gemeinsamkeiten unterbricht, umso sicherer ist es vor Selbstverständlichkeits- und Gleichgültigkeitsgefühlen.
Dankbarkeit: Partner, die sich für selbstverständlich nehmen, können einander nicht dankbar sein. Wie auch? Ist es doch gerade das Wesen einer selbstverständlichen Beziehung, die Dinge, die einer für den anderen tut, als nichts Besonderes anzusehen. Doch in jeder Partnerschaft gibt es Tag für Tag genügend Anlässe für Dankbarkeit. Dabei sollte man den Blick nicht auf die großen, spektakulären Ereignisse richten, sondern auf die kleinen, eher unscheinbaren Vorkommnisse: War es nicht schön, als der Partner einem die Decke gebracht hat, weil er merkte, dass man fror? Ist es nicht toll, dass jeden Morgen schon der Kaffee bereitsteht, wenn man aufwacht? Sollte man nicht dankbar sein, dass der andere so liebevoll das gemeinsame Zuhause gestaltet?
Paare, die einander nicht mehr wirklich wahrnehmen und achtlos miteinander leben, registrieren diese Anlässe für Dankbarkeit nicht mehr. Doch wenn es zwei Menschen gelingt, die kleinen Wohltaten des anderen wahrzunehmen und anzuerkennen, sind sie mit ihrer Beziehung auf der sicheren Seite.
Qualitätszeit, Achtsamkeit und Dankbarkeit – das ist die Trias, die vor dem Stress des Selbstverständlichen schützt. Alle drei Elemente sorgen dafür, dass man den anderen bei aller Vertrautheit immer mal wieder wie einen Fremden betrachtet (oder wenigstens wie einen Freund), dass man ihm respektvoll und neugierig gegenübertritt und ihn nicht behandelt wie irgendeinen x-Beliebigen, mit dem man zufällig die Wohnung teilt.
„Ketten halten eine Ehe nicht zusammen. Es sind Fäden, Hunderte von kleinen Fäden, die Menschen über die Jahre hinweg zusammennähen. Das ist es, was Ehen dauerhaft macht – mehr als Leidenschaft oder sogar Sex“, soll die französische Schauspielerin Simone Signoret einmal gesagt haben. Ein respektvolles, interessiertes Miteinander ist dabei die beste Voraussetzung, dass verbindende Fäden gesponnen werden können.