Ursula Nuber DiplompsychologinPsychologische Beratung | Paartherapie | Coaching

Depression

Die Depression gilt als der „Schnupfen“ unter den psychischen Erkrankungen. Nicht, weil sie so harmlos ist wie eine Erkältung, sondern weil sie inzwischen so häufig auftritt, dass Experten von einer „Depressionsepidemie“ sprechen. Weltweit, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation, leiden über 300 Millionen Menschen an Depressionen. In Deutschland sind es 2,8 Millionen Männer und 5 Millionen Frauen. Im Jahr 2020, so die WHO, wird die chronische Depression die zweithäufigste Erkrankung – nach den Herzkreislauferkrankungen – weltweit sein. 

Die deutschen Krankenkassen bestätigen die Zunahme der Depression. Sie sprechen zum Teil von einem „dramatischen Anstieg“. So zeigt zum Beispiel eine Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK): Im Zeitraum von 1997 bis 2004 ging die Zahl der psychischen Erkrankungen um 70 Prozent nach oben, am häufigsten litten die Betroffenen unter Ängsten und depressiven Störungen. Besonders betroffen waren junge Menschen, konkret: die 15- bis 34-Jährigen. In dieser Altersgruppe hat sich die Zahl der Fälle zum Teil verdoppelt. 

Was sind die Gründe?

Manche Experten führen den Anstieg der Depressionserkrankungen auf verbesserte Diagnostik und Information zurück. Sie meinen: Depressionen würden einfach schneller und zuverlässiger erkannt als früher. Andere vermuten, dass der Anstieg der Depressionszahlen der Pharmaindustrie zu verdanken ist. Sie verweisen auf das seltsame zeitliche Zusammentreffen zwischen dem Anstieg der Schätzzahlen und der Markteinführung bestimmter neuer Medikamentengruppen (den so genannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern). Es wird vermutet, dass die Pharmaindustrie im Einvernehmen mit Psychiatern das Konzept von Depression beeinflusst und sich dadurch die Anzahl der als depressiv Diagnostizierten verändert.

Auch wenn diese Argumente einleuchtend klingen – beide können nicht verlässlich bewiesen werden. Sie gehören also ins Reich der Spekulation. Und sie bleiben auch zu sehr an der Oberfläche, wenn man sich eine andere Erklärung zur Zunahme der Depression anhört: Diese macht die veränderten Lebensbedingungen als Schuldigen aus und glaubt, dass die modernen Zeiten zur Entstehung von Depressionen beitragen.

So erklären sich zum Beispiel die Experten der DAK den Anstieg der Depressionsquoten damit, dass in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit immer mehr junge Menschen mit psychischen Problemen auf berufliche und private Anforderungen reagieren.

Ähnlich argumentiert der französische Soziologie Alain Ehrenberg. Er spricht in seinem gleichnamigen Buch vom „erschöpften Selbst“, das überfordert ist von den „neuen Regeln“ der modernen Gesellschaft: „Welchen Bereich man sich auch ansieht (Unternehmen, Schule, Familie), die Welt hat neue Regeln. Es geht nicht mehr um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral, sondern um Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion und dergleichen. Selbstbeherrschung, psychische und affektive Flexibilität, Handlungsfähigkeit: Jeder muss sich beständig an eine Welt anpassen, die eben ihre Beständigkeit verliert, an eine instabile, provisorische Welt mit hin und her verlaufenden Strömungen und Bahnen. Die Klarheit des sozialen und politischen Spiels hat sich verloren. Die institutionellen Transformationen vermitteln den Eindruck, dass jeder, auch der Einfachste und Zerbrechlichste, die Aufgabe, alles zu wählen und alles zu entscheiden, auf sich nehmen muss.“

Eigenverantwortlichkeit heißt das Gebot der Zeit. Doch gleichzeitig stößt eigenverantwortliches Handeln permanent an Grenzen. Wie soll ein Langzeitarbeitsloser eigenverantwortlich handeln, wenn es keine Arbeitsplätze gibt? Wie sollen Beruf und Familie gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, wenn keine ausreichenden Betreuungsplätze für Kinder, keine Ganztagsschulen, keine passenden Teilzeitstellen angeboten werden? Wie soll das persönliche Glück gelingen, wenn der Einzelne von der Vielzahl an Wahlmöglichkeiten überfordert ist und gar nicht mehr weiß, was ihn persönlich glücklich machen könnte, was der Sinn seines Lebens ist?

Ehrenberg nennt die Depression eine „Krankheit der Verantwortlichkeit, in der das Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht.“ Wer glaubt: Ich schaffe es nicht, ich werde meinen eigenen Ansprüchen und den Ansprüchen anderer (tatsächlichen oder vermeintlichen) nicht mehr gerecht – läuft Gefahr, depressiv zu werden. Der französische Soziologe zeichnet ein düsteres Zukunftsszenario: „Wir werden mehr und mehr mit Psychopharmaka leben, die die Stimmung verbessern, die Selbstbeherrschung erhöhen und vielleicht auch die Schrecken der Existenz abmildern.“

Der Verweis auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen kann einen Teil der Fragen, welche die Zunahme der Krankheit Depression aufwirft, beantworten. Dennoch bleibt ein Rest Unklarheit. Schließlich sind alle Menschen diesen neuen Herausforderungen ausgesetzt, doch nicht alle reagieren mit Depression. Es drängt sich der Verdacht auf, dass manche Menschen mehr unter dem Stress des modernen Lebens leiden als andere.

Wer erkrankt?

Fest steht: Es müssen verschiedene Faktoren zusammenkommen, damit eine Depression entsteht.

1. Faktor: Verletzlichkeit
Nur Menschen, die eine gewisse Verletzlichkeit (Vulnerabilität) haben, sind anfällig für die Depression. Das heißt: Es muss eine negative Vorgeschichte in der Kindheit vorhanden sein – Missbrauch, Vernachlässigung, Verlust eines Elternteils, emotionale Kälte, Trennungserfahrungen, Krankheit –, damit sich bei einer späteren starken Belastung die Dunkelheit über die Seele legt. Diese frühe Erfahrung hinterlässt eine „biologische Narbe“, einen „biologischen Fingerabdruck“, wie Experten es nennen, der den betroffenen Menschen sensibler auf weitere Belastungen reagieren lässt. 

2. Faktor: Erleben eines kritischen Ereignisses
Das erstmalige Auftreten einer depressiven Phase im Leben eines Menschen ist fast immer durch ein schweres Belastungs- oder Verlustereignis ausgelöst: zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Trennung, Umzug, Krankheit, langandauernde Stresssituationen. Weitere depressive Episoden werden dann möglicherweise durch harmlose Belastungsereignisse ausgelöst. Am Ende kann es sogar ohne konkreten Auslöser zu depressiven Erkrankungen kommen. 

Grundsätzlich gilt, dass jeder Mensch mit einer entsprechenden Verletzlichkeit an Depression erkranken kann. Weder Alter, noch Schichtzugehörigkeit noch Geschlecht bieten diesen Menschen einen wirksamen Schutz vor dieser Krankheit. Soweit die Theorie. In der Praxis allerdings werden Frauen doppelt so häufig depressiv wie Männer. Das Risiko, einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, liegt bei Frauen zwischen 10 und 25 Prozent, bei Männern zwischen 5 und 12 Prozent. Etwa zwei Drittel aller depressiven Patienten, die von Psychiatern behandelt werden, sind Frauen.

Dabei ist interessant: Psychische Störungen, ganz allgemein, sind in der Bevölkerung annähernd gleich verteilt. Deutliche Geschlechtsunterschiede finden sich nur bei der depressiven Störung, und da nur bei der so genannten unipolaren Depression. Bei den bipolaren Störungen, bei denen sich depressive mit manischen Phasen abwechseln, gibt es keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen.

Da drängt sich natürlich die Frage auf: Welche Erklärung gibt es für diesen Geschlechtsunterschied bei der unipolaren Depression?

Eine Erklärung lautet: Die Diagnosen der Ärzte sind verzerrt. Amerikanische Wissenschaftler kamen auf der Basis einer Untersuchung an über 23.000 Patienten zu dem Schluss, dass Mediziner überdurchschnittlich häufig depressive Erkrankungen bei Frauen diagnostizieren, während sie bei Männern entsprechende Symptome übersehen oder mit einer anderen Diagnose belegen.

Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum sich Mediziner schwer tun, bei Männern die Anzeichen einer Depression rechtzeitig zu erkennen: Männer neigen dazu, depressive Symptome zu verleugnen, weil sie nicht als unproduktiv und schwach gelten wollen. Sie suchen erst dann einen Arzt auf, wenn sie ihm „handfeste“ Symptome – wie Magenschmerzen, Herzbeschwerden oder Ähnliches – präsentieren können. Frauen dagegen scheuen sich nicht, über ihre Gefühle zu sprechen. Dazu kommt, dass Mediziner die Depression für eine eher weibliche Krankheit halten und Männer seltener nach Symptomen fragen, die typisch für eine Depression sind. 

Ist die Depression also gar keine „Frauenkrankheit“, wie es immer heißt? Sind alle Spekulationen, warum Frauen anscheinend anfällig für die Depression sind, hinfällig? Liegt es also nur am eingeschränkten Blick der Experten, dass die Depression als Frauenkrankheit gilt?

Ganz so einfach ist es nicht. Denn die vorliegende Forschung zeigt, dass es für Frauen tatsächlich ein größeres Risiko gibt, an Depression zu erkranken. Da ist zum einen die Biologie der Frau: Unter dem Einfluss von Hormonschwankungen und -veränderungen erleben Frauen nach der Geburt eines Kindes oft depressive Phasen (Wochenbettdepression, Babyblues). Auch sind depressive Verstimmungen ein Hauptmerkmal des prämenstruellen Syndroms sowie der Wechseljahre.

Doch nicht jede Frau wird aufgrund ihrer Hormonschwankungen depressiv. Das wiederum weist darauf hin, dass es wohl noch andere Auslöser für die weibliche Depression geben muss.

Wie bereits erwähnt, werden Menschen depressiv, die zum einen aus ihrer Vorgeschichte eine bestimmte Verletzlichkeit mitbringen und die kritische Lebensereignisse bewältigen müssen.

Depression ist eine Stresskrankheit. Und an Stress fehlt es im Leben von Frauen nicht. Ihre Stressfaktoren sind häufig schwerwiegender als die von Männern:

  • Chronische Überlastung, Zeitmangel
    Frauen sind zeitlich mehr belastet als Männer. Sie verbringen deutlich mehr Zeit mit Berufstätigkeit, Hausarbeit, Kindererziehung und der Betreuung älterer Familienmitglieder als Männer. 25- bis 35-jährige Frauen kommen beispielsweise pro Woche auf 90 Stunden, die gleichaltrigen Männer nur auf 68 Stunden. Chronische Überlastung aber führt leicht zu dem Gefühl, die Dinge nicht mehr unter Kontrolle zu haben und ihnen ausgeliefert zu sein. Kontrollverlust wiederum führt zu Hilflosigkeit, und Hilflosigkeit ist ein wesentliches Merkmal der Depression.
  • Verheiratet sein
    Verheiratete Männer sind sehr viel weniger von Depression betroffen als unverheiratete. Verheiratete Frauen dagegen sind häufiger depressiv als ledige. Sie berichten in hohem Maße von ehelichen Spannungen und von Unzufriedenheit mit ihrer Beziehung. Auseinandersetzungen, Untreue des Partners oder dessen Unverständnis bedeuten für Frauen größeren Stress als für Männer. Die Ehe scheint also einen gewissen Schutz für Männer, aber nicht für Frauen zu bieten.
  • Traditionelle Rollenteilung
    Wie Studien zeigen, ist allein die Tatsache, ein kleines Kind zu versorgen, wesentlicher Faktor für die Entstehung einer Depression bei Frauen. Der Grund dafür mag in vielen Fällen in einer tiefen Enttäuschung liegen. Die meisten jungen Paare gründen eine Familie in der festen Überzeugung, sich die Aufgaben partnerschaftlich zu teilen. Doch die Realität sieht anders aus. Nach der Geburt des Kindes lebt die alte traditionelle Rollenteilung wieder auf. Die Frau bleibt zu Hause, der Mann wird zum Alleinversorger. Die jungen Mütter sind gezwungen, ihre Lebens- und Berufspläne für unbestimmte Zeit auf Eis zu legen – und sie fühlen sich oft mit der Kindererziehung überfordert und allein gelassen. Im Gegenteil zur landläufigen Meinung werden Frauen seltener depressiv, wenn die Kinder das Haus verlassen.
  • Beziehungsarbeit
    Immer noch fühlen sich Frauen für das Klima in Partnerschaft und Familie zuständig. Frauen leisten Beziehungsarbeit und fühlen sich für das Wohl der anderen verantwortlich. Frauen haben sehr viel längere soziale Antennen als Männer. Das führt dazu, dass sie es schneller und häufiger wahrnehmen, wenn andere Probleme haben. Und sie erkennen die Probleme nicht nur, sondern kümmern sich dann auch darum.
  • Grübelsucht
    Erschwerend kommt bei Frauen hinzu, wie sie mit negativen Stimmungen umgehen: Während Männer sich ablenken, grübeln Frauen. Grübeln aber stellt ein hohes Depressionsrisiko dar. Frauen grübeln dabei nicht nur über das nach, was ihnen passiert ist oder was sie angeblich falsch gemacht haben, sie grübeln auch deutlich mehr über die Probleme anderer Menschen.
  • Pflege alter Menschen
    Frauen tragen die Hauptlast bei der Pflege älterer und kranker Angehöriger. Sie können sich von der emotionalen Belastung oft nicht gut distanzieren und bekommen auch von ihrem sozialen Netz wenig Unterstützung bei der Pflege.
  • Armut 
    Armut ist ein weiterer großer Risikofaktor für weibliche Depression. Studien aus den USA zeigen, dass alleinerziehende Mütter, die in Armut leben, die höchsten Depressionsraten überhaupt aufweisen. Neben der finanziellen Not spielen noch andere Faktoren eine Rolle: Frauen, die in ungesicherten Verhältnissen leben, leiden unter Kontrollverlust, sie können die Situation nicht beeinflussen, sie haben chronische Belastungen wie unsichere Wohnverhältnisse, alleinige Verantwortung für die Kinder, unsichere Arbeitsplätze etc. Auch das soziale Netzwerk lässt diese Frauen oft im Stich. Häufig bietet der Partner nicht die nötige Unterstützung, braucht selbst welche oder ist gar nicht vorhanden.
  • Missbrauch
    Neuere Studien weisen auch darauf hin, dass Gewalt- und Missbrauchserfahrungen die höhere Depressionsrate von Frauen erklären können. Mädchen haben ein doppelt so hohes Risiko wie Jungen, missbraucht zu werden. Und diese frühen Missbrauchserfahrungen können verletzbar machen und dazu führen, dass die Betroffenen im späteren Leben mit Depressionen auf schwierige Lebensbedingungen reagieren.

Die Aufzählung dieser Stressfaktoren verdeutlicht: Frauen sind häufig stark belastet, sie müssen mit vielfältigen Anforderungen und Herausforderungen oft allein fertig werden. Sie stehen permanent unter Stress.

Dieser chronische Stress löst dann in vielen Fällen eine Depression aus. Die betroffene Frau strengt sich an, bestimmte wichtige Ziele zu erreichen oder ihre vielfältigen Aufgaben zu erfüllen. Sie setzt dafür all ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten ein. Die Anstrengung wie auch das jeweilige Ziel können bewusst sein, können aber auch unbewusst bleiben. (Typisch weibliche Ziele können sein: eine gute Ehefrau und Mutter sowie eine erfolgreiche Karrierefrau zu sein; sich für das Gelingen einer Beziehung verantwortlich zu fühlen.)

Irgendwann erkennt die gestresst Frau, dass all ihre Anstrengungen nicht ausreichen, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Die Beziehung zum Partner ist schlecht oder gescheitert; sie droht unter der Doppelbelastung zusammenzubrechen; sie fühlt sich ausgebrannt und wertlos. Allerdings gelingt es ihr nicht, die Ursachen für ihr Scheitern und für ihre Empfindungen ausfindig zu machen.

Zur Frustration kommt also noch die Unsicherheit hinzu, den Grund für das Versagen nicht zu kennen. Auch diese Phase kann sich zum Teil dem bewussten Erleben entziehen. Ob bewusst oder unbewusst – es entsteht Verwirrung.

Die Beunruhigung nimmt zu. Oftmals verstärken betroffene Frauen dann ihre Anstrengungen. Sie versuchen all ihre Kräfte zu mobilieren und tun noch mehr desselben. Sie sind noch freundlicher, noch fleißiger, noch hilfsbereiter – nur um wieder und wieder feststellen zu müssen: „Ich schaffe nicht, was ich schaffen will.“ Die Folge: Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, tiefe Erschöpfung, sozialer Rückzug – und schließlich die Depression. Typische Merkmale dieser Phase sind: Hoffnungslosigkeit, Angst, keine Freude mehr, fehlender Antrieb, Energielosigkeit, ein Gefühl der Sinnlosigkeit, Durchschlafstörungen, fehlendes sexuelles Interesse. Der Stress ist übermächtig geworden, die betroffene Frau sieht keine Handlungsmöglichkeiten mehr, sie weiß gar nicht, was mit ihr eigentlich los ist.

Kann dieser Prozess einen Sinn haben?

Für Betroffene mag die Frage zynisch klingen. Das Leid ist zu groß, die Situation zu unerträglich, das Gefühl der Sinnlosigkeit zu tief, als dass man etwas Positives, Produktives darin erkennen könnte. Und dennoch hat die Krankheit Depression einen Sinn.

Wenn Menschen in schwierigen Situationen erstarren, ihre Aktivität einstellen, dann kann das durchaus ein vernünftiges Verhalten sein. Die Depression stellt sicher, dass man nicht unnötige Energie verschwendet. Sie sorgt dafür, dass man innehält, sich schont in Situationen, in denen man zunächst keine Handlungsmöglichkeiten sieht. So gesehen ist Depression eine gesunde Anpassungsleistung an schwierige Bedingungen.

Psychische Krankheiten, also auch die Depression, stellen leidvolle Versuche dar, psychische Konflikte und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten und zu bewältigen. Symptome haben eine Bedeutung, sie verweisen auf zugrunde liegende Ursachen.

Depressionen haben, wie jedes Gefühl, Signalfunktion. Sie informieren uns über unser Verhältnis zur Umwelt, darüber, wie wir bestimmte Situationen und Menschen wahrnehmen und einschätzen. Wenn wir die Depression verleugnen, nehmen wir ihr diese wichtige Signalfunktion. Das heißt, wir lassen die Chance ungenutzt, ihre Botschaft zu hören und diese für eine Veränderung zu nutzen.

Bereits 1939 meinte der Psychologe Heinz Hartmann, dass ein gesunder Mensch die Fähigkeit besitzen müsse, zu leiden und depressiv zu sein. Denn es wird im Leben immer Situationen geben, die Gefühle der Depression hervorrufen müssen, wollen wir mit ihnen fertig werden. Die Depression zeigt uns unsere Grenzen auf und bewahrt uns gleichzeitig davor, diese Grenzen zu verletzen, über unsere Kräfte zu leben. Depression ist eine Art Schutzfunktion, sie zwingt uns innezuhalten und – im Idealfall – im Prozess der Depression produktive Lösungen zu finden.

Der Analytiker Carl Gustav Jung riet: „Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz. Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat.“

Um hören zu können, was die Dame in Schwarz zu sagen hat, braucht ein depressiver Mensch sicherlich Mut: Er muss bereit sein, sich der Wahrheit zu stellen. Er muss die von ihm errichtete Fassade einreißen und sich eingestehen, dass er mit seinen bisherigen Lösungsversuchen gescheitert ist. Wichtig ist, mit sich selbst und der Dame in Schwarz in einen Dialog einzutreten, mit dem Ziel, Verständnis für die depressive Reaktion zu entwickeln und Antworten zu finden auf Fragen:
Wie kann ich mich schützen? Wie kann es gelingen, inmitten dieser stressvollen Leben nicht depressiv zu werden?

Kann man sich denn überhaupt selbst helfen?

Ein Depressionsexperte hat Depressive einmal mit Nichtschwimmern verglichen. Den Nichtschwimmern fehlt die Fähigkeit, in tiefem Wasser zu überleben, die depressiv Erkrankten wissen nicht, wie sie die Tiefen des Lebens meistern können. Schwimmen kann man lernen, mit Depression umgehen auch. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Wer in einer schweren depressiven Phase steckt, hat kaum eine Möglichkeit, sich selbst ohne fachkundige Hilfe aus der Depression zu befreien. Und auch leichte depressive Verstimmungen können, solange sie akut sind, einen Menschen völlig lähmen. Selbsthilfe kann sich immer nur auf die einigermaßen depressionsfreien Zeiten beziehen. Und die gibt es in den meisten Fällen.

In einer Studie wurden 900 depressive Frauen gefragt, was ihnen hilft, wenn sie in einer depressiven Phase gefangen sind. Als besonders unterstützend empfanden die Frauen Folgendes: Gespräche mit verständnisvollen Menschen; sich über ihre Gefühle und Lebenssituation klar werden; nach den Ursachen der Depression forschen; sich zurückziehen, weinen, Gefühle aufschreiben, schlafen und – in den weniger depressiven Phasen – Sport treiben.

Wie die Forschung bestätigt, sind das alles sinnvolle Strategien. Am sinnvollsten aber ist es, der Depression schon im Vorfeld Paroli zu bieten. Wie gezeigt, ist Stress eine Hauptursache von Depression. Natürlich lassen sich die Stressquellen des Alltags nicht einfach eliminieren. Aber man kann lernen, den Umgang mit ihnen zu verbessern. Ein besseres Stressmanagement kann verhindern, dass schwierige Situationen zu chronischen Belastungen werden.

Schwierige Lebensumstände allein lösen noch keine Depression aus. Das passiert erst, wenn keine Möglichkeit gesehen wird, in einem positiven Sinne Einfluss auf die Situation zu nehmen. Dabei kommt es nicht nur auf die objektiven Möglichkeiten an, die ein Mensch hat, sondern auch auf die Möglichkeiten, die er sich selbst zuspricht. Die Überzeugung „Das schaffe ich schon“ ist von enormer Bedeutung. Wer so denken kann, vertraut auf seine eigenen Fähigkeiten und fühlt sich nicht hilflos ausgeliefert. Ein starkes Selbstwertgefühl ist also die beste Abwehr gegen die Krankheit Depression. 

Weiterlesen:
Ursula Nuber: Depression. Die verkannte Krankheit
dtv, München 2006. Taschenbuch, 208 Seiten
€ 9,–, ISBN 978-3-423-34272-8